BVerfG: Der Tatbestand muss schon geprüft werden

Das Gericht ist verpflichtet, eine angefochtene Verfügung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen. Das bedeutet, dass die Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage (hier: § 35 Abs. 1 Nr. 3 StVollzG MV) vorliegen. Es liegt sonst eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz vor (Beschluss BVerfG 18. August 2021 – 2 BvR 2181/20).

Das Verfahren dauerte zwei Jahre. Jetzt bekam der Kläger Recht – ein Strafgefangener. Die Klage richtete sich gegen die Anstaltsleitung der Justizvollzugsanstalt Bützow. Die Verfassungsrichter erkannten seine Verfassungsbeschwerde an. Sie gaben ihm Recht und hoben zwei Beschlüsse untergeordneter Gericht auf. Ein Beschluss des Landgerichts Rostock (2. Juli 2020 – 13 StVK 1137/19 (1)) und des darauf ergangenen Beschlusses des Oberlandesgerichts Rostock (12. November 2020 – 20 Ws 206/20).

Es geht um einen Brief. Dieser wurde von der Anstalt gestoppt und nicht an den Empfänger – dem Kläger – weitergeleitet. Das Landgericht lehnte den Antrag auf richterliche Entscheidung wegen mangelnden berechtigten Feststellungsinteresses als unzulässig ab. Die hiergegen gerichtete Beschwerde sah das Oberlandesgericht Rostock als unzulässig an.

Eine inhaltliche Prüfung hat nicht stattgefunden!

Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Zulässigkeit des Anhaltens eingehender Schreiben, die an Strafgefangene gerichtet sind, ergeben sich aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 29. Juni 1995 – 2 BvR 2651/94 und vom 3. Dezember 2014 – 2 BvR 1956/13; vgl. auch BVerfGE 41, 329 <331>).

Zu den Bedingungen der Persönlichkeitsentfaltung gehört es, dass der Einzelne einen Raum besitzt, in dem er unbeobachtet sich selbst überlassen ist oder mit Personen seines besonderen Vertrauens ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhaltenserwartungen und ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen verkehren kann (vgl. BVerfGE 90, 255 <260 m.w.N.>).

Der Gesetzgeber des Landes Mecklenburg-Vorpommern hat das Recht auf Schriftwechsel einfachgesetzlich in § 31 StVollzG M-V normiert. Beschränkungen dieses Rechts dürfen nur nach Maßgabe der §§ 31 ff. StVollzG M-V vorgenommen werden. So kann nach § 34 Abs. 1 StVollzG M-V der Schriftwechsel nur überwacht werden, soweit es im Einzelfall wegen einer Gefährdung der Erreichung des Vollzugsziels oder aus Gründen der Sicherheit erforderlich ist. Von der Überwachung des Schriftverkehrs ist als eigenständige staatliche Maßnahme das Anhalten von Schreiben nach § 35 Abs. 1 StVollzG M-V zu unterscheiden. Unter anderem kann gemäß § 35 Abs. 1 Nr. 3 StVollzG M-V ein Schreiben angehalten werden, wenn es grob unrichtige oder erheblich entstellende Darstellungen von Anstaltsverhältnissen oder grobe Beleidigungen enthält.

Das Bundesverfassungsgericht stellte nun einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) fest. Die komplette Entscheidung ist auf der Seite des Bundesverfassungsgerichts zu finden.

Aus der Entscheidung des BVerfG

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG. 

Gemessen hieran ist das Landgericht Rostock im Beschluss vom 2. Juli 2020 den Anforderungen von Art. 19 Abs. 4 GG nicht gerecht geworden. Indem das Landgericht den Antrag des Beschwerdeführers entgegen dem erkennbar verfolgten Rechtsschutzziel dahingehend ausgelegt hat, dass sich der Antrag allein gegen die bereits in einem weiteren Rechtsschutzverfahren angegriffene Überwachungsanordnung gemäß § 34 Abs. 1 StVollzG M-V richte und dem Beschwerdeführer deshalb ein Rechtsschutzbedürfnis fehle, hat das Gericht dessen Rechtsanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Das Gericht war verpflichtet, die vom Beschwerdeführer ausdrücklich angefochtene Anhalteverfügung vom 10. September 2019 in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen. Das Landgericht hätte deshalb insbesondere prüfen müssen, ob das von der Redaktionsgemeinschaft an den Beschwerdeführer gesandte Schreiben die Tatbestandsvoraussetzungen des § 35 Abs. 1 Nr. 3 StVollzG M-V erfüllt. So bleibt bei der von der Justizvollzugsanstalt nicht näher begründeten Mitteilung über das Anhalten des Schreibens bereits ungeklärt, welche konkreten Inhalte des Schreibens das jeweilige Tatbestandsmerkmal erfüllen sollen. 

c) Der Beschluss des Oberlandesgerichts Rostock vom 12. November 2020 verletzt den Beschwerdeführer ebenfalls in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG. Zwar hat das Oberlandesgericht ausgeführt, dass unter anderem ein Feststellungsinteresse anzunehmen sei, wenn bei der angefochtenen Maßnahme ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG substantiiert geltend gemacht werde. Es hat jedoch übersehen, dass eine entsprechende Konstellation hier ersichtlich vorliegt. Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Zulässigkeit von Beschränkungen eingehender Schreiben, die an Strafgefangene gerichtet sind, ergeben sich aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Mit der ergänzenden Begründung, dass die tatsächliche Würdigung des Landgerichts in der angegriffenen Entscheidung aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden sei und der Senat die wiederholt vorgetragene Ansicht des Beschwerdeführers zur Überwachung und zum Anhalten seiner Briefe nicht teile, hat sich das Oberlandesgericht zudem die landgerichtliche Entscheidung in den zu beanstandenden Erwägungen zu eigen gemacht. Darin liegt eine eigenständige Verkennung der Bedeutung und Tragweite von Art. 19 Abs. 4 GG.

Ob weitere Grundrechte verletzt wurden, hat das Bundesverfassungsgericht offen gelassen. Nun muss das Landgericht Rostock erneut entscheiden.

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