Unschuldsvermutung vs. Disziplinarmaßnahmen

Penneke

Bei Recherchen im Internet stieß ich auf einen etwas älteren Beschluss, in dem das Oberlandesgericht Hamm feststellte, dass eine Strafvollstreckungskammer nicht feststellen kann, dass ein Gefangener eine bestimmte Straftat begangen hat (OLG Hamm, 17.07.2012 – III-1 Vollz (Ws) 323/12)   „Es verstößt gegen die Unschuldsvermutung aus Art. 6 Abs. 2 EMRK in der Auslegung durch den EGMR (NJW 2004, 43 [EGMR 03.10.2002 – 37568/97]), wenn die Strafvollstreckungskammer im Rahmen eines Antrages auf gerichtliche Entscheidung feststellt, dass der Betroffene eine bestimmte Straftat begangen habe, die aber noch nicht abgeurteilt (und auch vom betroffenen nicht gestanden) worden ist und der Betroffene deswegen zu Recht mit einer Disziplinarmaßnahme belegt worden sei.“ (Amtl. Leitsatz)   Sachverhalt: Der Betroffene verbüßte in der Zeit dieses Beschlusses mehrere Freiheitsstrafen in der Justizvollzugsanstalt F.Das Haftende war auf den 13.11.2012 notiert. Am 29.2.2011 kam es zu einem Vorfall, bei dem der Be­troffene einen Mitgefangenen schlug und ihm das Jochbein brach. Der Mitgefangene musste ärztlich behandelt werden, der Betroffene selbst verzichtete auf eine Vorstellung beim Krankendienst. Er berief sich zuletzt darauf, in Notwehr gehandelt zu haben.   Nach Anhörung aller Beteiligten und Beteiligung der Vollzugskonferenz verhängte der Leiter der JVA H einen vierwöchigen Dauerarrest gegen den Be­troffenen und löste ihn schuldhaft von der Arbeit ab. Hiergegen hat der Betroffene Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt. Er beruft sich auf die Unschuldsver­mutung und die Unverhältnismäßigkeit der Sanktionen. Der Leiter der JVA H hat die Vollziehung des Arrestes bis zur gerichtlichen Entscheidung ausgesetzt. Er ist dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung entgegengetreten. Eine Notwehrlage habe nicht vorgelegen.

 

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht – Strafvollstreckungskammer – den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen. Der verhängte Dauerarrest von vier Wochen sei rechtmäßig. Der Leiter der JVA H habe das Verfahren nach § 106 StVollzG eingehalten und rechtsfeh­lerfrei unter Berücksichtigung der Unschuldsvermutung über die Sanktion entschie­den. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen sei der Leiter der JVA H “rechtsfehlerfrei von einer schweren Verfehlung des Antragstellers, nämlich einer gravierenden rechtswidrigen und schuldhaften Körperverletzung zum Nachteil eines Mitgefangenen ausgegangen”. Die Angaben des Mitgefangenen seien glaubhaft. Die Einlassung des Betroffenen, dass er in Notwehr gehandelt habe, sei demgegenüber “durch die Schwere der Verletzung – eine Jochbeinfraktur – die operativ versorgt werden musste, sowie durch den Umstand, dass der Antragsteller selbst keinerlei Verletzungen davon getragen hat, hinreichend widerlegt”. Auch die Ablösung von der Arbeit sei rechtmäßig.

 

Gegen diesen, dem Betroffenen am 03.06.2012 zugestellten Beschluss richtet sich seine Rechtsbeschwerde vom 15.06.2012, eingegangen am gleichen Tage, nebst Antrag auf Prozesskostenhilfe. Der Betroffene rügt eine Verletzung der Unschulds­vermutung, weil die Strafvollstreckungskammer nicht den Ausgang des Strafverfah­rens abgewartet habe. Weiter wird gerügt, dass die Strafvollstreckungskammer nicht die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten zu dem Vorfall beigezogen habe. Schließlich wird die Beweiswürdigung des Landgerichts als gegen Denkgesetze ver­stoßend gerügt. Der Betroffene beruft sich auf den Zulassungsgrund der Fortbildung des Rechts.

 

Das OLG erachtete die Rechtsbeschwerde als zulässig und begründet.

 

Die Unschuldsvermutung i.S.v. Art. 6 Abs. 2 EMRK wird – so die Auslegung des EGMR – verletzt, wenn ein Gericht in einer Entscheidung oder ein Vertreter des Staates in einer Erklärung die Auffassung erkennen lassen, eine wegen einer Straftat angeklagte Person sei schuldig, ohne dass sie entsprechend den gesetzlichen Vor­schriften verurteilt worden ist. Auch ohne formellen Schuldspruch reicht es aus, wenn sich aus den Gründen oder der Erklärung ergibt, dass das Gericht oder der Vertreter des Staates den Angeklagten für schuldig hält. Dabei ist die Wortwahl von besonde­rer Bedeutung (EGMR NJW 2004, 43, 44 [EGMR 03.10.2002 – 37568/97]; vgl. auch EGMR NJW 2006, 1113 [EGMR 28.04.2005 – 72758/01]). Das Landgericht hat es hier für rechtsfehlerfrei erachtet, dass der Leiter der JVA den Betroffenen “einer gravierenden rechtswidrigen und schuldhaften Körperverletzung” – und damit einer Straftat – für schuldig befunden hat und hat sich diese Auffassung – wie die angestellte Beweiswürdigung zeigt – zu eigen gemacht. Zu diesem Zeit­punkt war der Betroffene wegen des Vorfalls strafrechtlich nicht abgeurteilt.   Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist es daher zwar im Grundsatz (weiterhin) angängig, eine Disziplinarmaßnahme zu verhängen, auch wenn wegen derselben Verfehlung ein Strafverfahren eingeleitet wird.

 

§ 102 Abs. 3 StVollzG muss aber in den Fällen einschränkend ausgelegt werden, wenn die Disziplinarmaßnahme gerade unter dem Gesichtspunkt der Begehung einer rechtswidrigen und schuldhaften Straftat verhängt und deswegen auch besonders schwer ausfällt (hier u.a. einem Ar­rest vom Höchstmaß von vier Wochen, § 103 Abs. 1 Nr. 9 StVollzG), die dem Be­troffenen vorgeworfene Straftat aber noch gar nicht abgeurteilt worden ist (wobei in­soweit eine noch nicht rechtskräftige Aburteilung allerdings ausreichend wäre, vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 13.07.2007 – 3 Ws 672/07; Beschl. v. 30.04.2012 – 3 Ws 101/12 m.w.N.) und der Betroffene eine Straftat auch nicht gestanden hat (vgl. dazu EGMR NJW 2004, 43, 44 [EGMR 03.10.2002 – 37568/97]; Hubrach in LK StGB, 12. Aufl., § 56f Rdn. 10).

 

An einer Schuldfeststellung aufgrund eigener Beweiserhebung und Beweiswürdigung ist die Strafvollstreckungskammer, da sie nicht das zur Aburteilung der Straftat berufene Gericht und mit diesem regelmäßig auch nicht personenidentisch ist, aufgrund der bereits eingangs genannten Entscheidung des EGMR (NJW 2004, 43 [EGMR 03.10.2002 – 37568/97]), die zu der parallelen Problematik im Rahmen des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewäh­rung nach § 56f StGB ergangen ist, gehindert.

 

Unbedenklich fand das OLG Hamm jedoch die Verhängung der Disziplinarmaßnahme selbst. Als Ermächtigungsgrundlage hierfür sah das OLG den § 82 StVollzG als möglich an. Das OLG Hamm hat eben „nur“ die Formulierung im Beschluss angeprangert bzw. schlug vor, den Ausgang des Strafverfahrens abzuwarten.

 

Dem Betroffenen selbst brachte dieses Urteil im ersten Moment einen juristischen, jedoch keinen menschlichen Sieg. Er wollte die Disziplinarmaßnahme gegen sich verhindern. Dieser Erfolg blieb zunächst aus.

 

Die Folgeentscheidung und ob der Arrest wirklich noch verhangen wurde, ist mir bisher unbekannt.

 

Ich freue mich über Informationen hierzu.

 

Thomas Penneke (Strafverteidiger)

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