Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung

Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 19. August 2020 einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die sich gegen die strafgerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung einer Mitarbeiterin einer Justizvollzugsanstalt richtet. Ein Inhaftierter hatte diese als “Trulla” bezeichnet, weil er mit seinem Anliegen bei ihr nicht durchgedrungen ist (Beschluss vom 19. August 2020 1 BvR 2249/19).

Diese Entscheidung ist zwar schon etwas älter, doch sie ist strafrechtlich schon interessant. Die angegriffenen Entscheidungen genügen den Anforderungen des Grundrechts auf Meinungsfreiheit an strafrechtliche Verurteilungen wegen ehrherabsetzender Äußerungen nämlich nicht.

Sachverhalt:

Dem Verfahren liegt eine mündliche Äußerung des in Sicherungsverwahrung befindlichen Beschwerdeführers gegenüber einer Sozialarbeiterin einer Justizvollzugsanstalt zugrunde. Wegen Computerproblemen war das für Einkäufe in der Einrichtung verfügbare Taschengeld des Beschwerdeführers zu dem Zeitpunkt, zu dem Bestellungen aufzugeben gewesen wären, noch nicht gebucht. Da der Beschwerdeführer fürchtete, dass das Geld nicht rechtzeitig für einen Einkauf zur Verfügung stehen und er die Bestellmöglichkeit verpassen würde, suchte er am selben Tag in aufgeregtem Zustand das Dienstzimmer einer Sozialarbeiterin der Justizvollzugsanstalt auf. Da er das Gefühl hatte, mit seinem Anliegen nicht zu dieser durchzudringen, wurde er wütend und bezeichnete sie im Rahmen eines Wortschwalls als „Trulla“. Der Beschwerdeführer wurde deshalb von den Strafgerichten wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Bezeichnung als „Trulla“ habe grundsätzlich ehrverletzenden Charakter, weil das Wort „Trulla“ im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet werde, um abwertend über weibliche Personen zu sprechen. In der konkreten Situation sei der Begriff auch nicht neckisch gemeint und ohne beleidigenden Charakter gewesen.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

I. Die angegriffenen Entscheidungen genügen den Anforderungen des Grundrechts auf Meinungsfreiheit an strafrechtliche Verurteilungen wegen ehrherabsetzender Äußerungen nicht.

1. Da Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG jedem das Recht gibt, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten, auch wenn dies in polemischer oder verletzender Weise geschieht, greifen strafrechtliche Verurteilungen wegen Beleidigung (§ 185 StGB) in das Grundrecht der Meinungsfreiheit ein. Die Anwendung dieser Strafnorm erfordert daher eine der Meinungsfreiheit gerecht werdende Ermittlung des Sinns der infrage stehenden Äußerung und darauf aufbauend im Normalfall eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen. Hierfür bedarf es einer umfassenden Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles und der Situation, in der die Äußerung fällt. Eine ehrbeeinträchtigende Äußerung ist daher nur dann eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige (§ 193 StGB) Beleidigung, wenn das Gewicht der persönlichen Ehre in der konkreten Situation die Meinungsfreiheit des Äußernden überwiegt. In aller Regel setzt eine Verurteilung daher voraus, dass das für die Zulässigkeit einer Äußerung streitende Meinungsfreiheitsinteresse überhaupt gerichtlich erkannt und erwogen wird. Ein kränkender Äußerungsinhalt als solcher begründet noch kein Überwiegen des Ehrschutzes, sondern ist gerade der Grund dafür, in eine Grundrechtsabwägung einzutreten.

Das Ergebnis der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung ist dabei verfassungsrechtlich nicht vorgegeben. Das Bundesverfassungsgericht prüft lediglich, ob die Fachgerichte Bedeutung und Tragweite der durch die strafrechtliche Sanktion betroffenen Meinungsfreiheit ausreichend berücksichtigt und innerhalb des ihnen zustehenden Wertungsrahmens die für den Fall erheblichen Abwägungsgesichtspunkte identifiziert und in die Abwägung eingestellt haben. Zu den zu berücksichtigenden Umständen können insbesondere Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten gehören.

2. Eine solche Abwägung kann zwar im Einzelfall entbehrlich sein, wenn herabsetzende Äußerungen die Menschenwürde einer konkreten Person antasten oder sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen. Die Kammer hat aber noch einmal unter Verweis auf ihre Entscheidungen aus Mai 2020 (vergleiche Pressemitteilung Nr. 49/2020) deutlich gemacht, dass es sich dabei um Ausnahmefälle handelt, die an strenge Voraussetzungen geknüpft sind. Gerade in den vielfach nicht eindeutig gelagerten Grenzfällen biete es sich für die Gerichte an, jedenfalls hilfsweise eine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Schutz der Persönlichkeit vorzunehmen.

II. Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht.

Im vorliegenden Verfahren haben die Strafgerichte die Meinungsfreiheit gar nicht erst als einschlägig erkannt und erwogen. Entsprechend haben sie eine Abwägung der gegenläufigen Ehrschutz- und Meinungsfreiheitsinteressen unter Berücksichtigung der konkreten Umstände nicht vorgenommen. Vielmehr wird der beleidigende Charakter der inkriminierten Äußerung unmittelbar aus deren bewusst herabsetzendem und kränkendem Gehalt gefolgert. Eine Einordnung als Schmähkritik, die eine Abwägung entbehrlich machen könnte, wird angedeutet, aber nicht substantiell begründet. Da die bestrafte Äußerung spontan und mündlich im Rahmen hitziger Auseinandersetzungen fiel und eine Begebenheit betraf, die in den dienstlichen Bereich der Betroffenen fiel, ist eine solche Einordnung auch der Sache nach fast ausgeschlossen. Sie ist zudem Ausdruck einer – wenngleich nicht vollständig gelungenen – emotionalen Verarbeitung der als unmittelbar belastend wahrgenommenen Situation. Diese Gesichtspunkte und der Umstand, dass der Beschwerdeführer in besonderer Weise staatlicher Machtentfaltung ausgesetzt war, dürften im Rahmen der neuerlichen fachgerichtlichen Abwägungsentscheidung zu berücksichtigen sein.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 95/2020 vom 29. Oktober 2020 und Link zur PM: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-095.html

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